Der Einsturz der Ashtabula Brücke

Ashtabula (Ohio) / USA, am 29.12.1876

Die Ashtabulabrücke vor dem Einsturz
Die Brücke über den Ashtabula River um 1870.
Hinter dem rechten Widerlager ist ein Pfeiler des Vorgängerbauwerks zu sehen.
Name: Ashtabula River Bridge
Ort: Ashtabula / Ohio
Land: USA
Überbautes Hindernis: Ashtabula River
Konstruktionstyp: Balkenbrücke / Fachwerkträger
Material: Schweißeisen / Gußeisen, Mauerwerk
Bauzeit: 1863 - 1866
Beteiligte: Amasa Stone
Verkehrsart: Eisenbahn
Gesamtlänge: ca. 100 m, inkl. Bögen
Größte Spannweite: 47 m
Lichte Höhe: ca. 18 m
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Brief summary:

On the southern shore of Lake Erie lies the small town of Ashtabula (Ohio), which made the headlines in the world press in 1876 as a result of what was then the largest railroad disaster in the United States. The bridge collapse probably killed over 90 people and many were seriously injured.

Am südlichen Ufer des Eriesees liegt die Kleinstadt Ashtabula (Ohio), die 1876 durch die bis dahin größte Eisenbahnkatastrophe der USA in die Schlagzeilen der Weltpresse geriet. Bei dem Brückeneinsturz kamen wahrscheinlich über 90 Menschen ums Leben und viele wurden schwer verletzt.

Im 19. Jhd. wurden auf der ganzen Welt händeringend Ingenieure gesucht, um den Ausbau der Eisenbahnlinien weiter voranzutreiben. Die Ausbildung der dringend benötigten Fachkräfte verlief in den angelsächsischen Ländern aber völlig anders, als im restlichen Europa. In Frankreich, in Deutschland, der Schweiz und in Österreich legte man großen Wert auf eine fundierte theoretische Ausbildung mit einer entsprechenden Abschlussprüfung. In Amerika, Kanada und Großbritannien hingegen vertraute man vor allem auf das praktische Erlernen von Fähigkeiten, das "learning by doing".


Die "praktischen Männer" der amerikanischen Eisenbahnen

Während sich - ausgehend von Frankreich - auch in Deutschland die ersten staatlichen Bauschulen etablierten, zählte in Amerika vor allem die praktische Ausbildung, die meist mit einfachen Hilfstätigkeiten begann und je nach Befähigung und Engagement einen schrittweisen Aufstieg ermöglichte. Nach oben gab es dabei im Prinzip keine Grenzen und wie das folgende Beispiel zeigen wird, konnte auch ein ungelernter Arbeiter durchaus Präsident einer Eisenbahngesellschaft werden, getreu dem beliebten Narrativ "vom Tellerwäscher zum Millionär".

Damals wie heute verstand man in Deutschland unter einem Ingenieur einen Techniker, der an einer speziellen Schule einen entsprechenden Ausbildungsgang erfolgreich absolviert hatte und eine Abschlussprüfung vor einer staatlichen Prüfungskommission abgelegt hatte. In Europa führte die internationale Angleichung der Studiengänge an den technischen Hochschulen inzwischen auch in Deutschland zur Einführung der Bachelor- und Masterabschlüsse.

In Amerika und Großbritannien nahm man im 19. Jahrhundert die Berufsbezeichnung "Ingenieur" weit weniger genau, denn auch ein Handwerker konnte sich diesen Titel durch langjährige Praxis erwerben. Eine gewisse Änderung in der amerikanischen Haltung gegenüber theoretischen Ausbildungen im Eisenbahn- und Brückenbau resultierte allerdings durch den Einsturz der Ashtabulabrücke, der u.a. durch das fehlende Grundlagenwissen ihrer Erbauer verursacht wurde.


Ein Mann arbeitet sich nach oben

Ein typischer Vertreter der sogenannten "praktischen Männer" der amerikanischen Eisenbahnen war Amasa Stone, der 1818 als Sohn eines Farmers in Charleston / Massachusetts geboren wurde. Mit 17 trat er seine erste Anstellung bei einem Bauunternehmer als Hilfsarbeiter an, doch schon zwei Jahre später war er maßgeblich am Bau eines großen Wohnhauses in Worcester beteiligt. Stone scheint technisch sehr talentiert gewesen zu sein, denn bereits im Alter von 20 Jahren errichtete er mit seinen beiden älteren Brüdern eine Kirche in East Brookfield. Wenig später gründete er seine erste eigene Firma und begann sich mit dem stark expandierenden Bahnbau zu beschäftigen.

Der Zufall wollte es, dass sich sein Schwager William Howe 1841 zur Ruhe setzte und ihm das Patent für den bekannten "Howe-Träger" verkaufte. Mit dieser Trägerform hatte Howe ein Vermögen verdient und auch Stone sollte überaus lukrative Geschäfte damit machen. Der ursprüngliche Howeträger bestand im Wesentlichen aus Holz, das überall verfügbar und leicht zu bearbeiten war und daher auch sehr preiswert. Das Besondere an diesem Träger war aber, dass die knickempfindlichen vertikalen Pfosten aus Schweißeisen bestanden. Diese Kombination war insgesamt sehr kostengünstig herzustellen aber weit höher belastbar, als eine reine Holzkonstruktion. Insofern waren die 40.000 Dollar, die Amasa Stone für das Patent an Howe bezahlte, zwar sehr viel Geld für die damalige Zeit, letzten Endes aber gut angelegt.

Aufgrund seiner guten Arbeit erwarb sich Stone im Laufe der Jahre einen hervorragenden Ruf im Eisenbahngewerbe, und er wurde von den verschiedenen privaten Bahngesellschaften regelrecht umworben. Auf der Karriereleiter ging es nun steil bergauf für ihn, vom Ingenieur zum Chefingenieur, bis er eines Tages Direktor mehrerer Eisenbahngesellschaften war. Ein Aufstieg wie er wohl nur in Amerika möglich war: vom einfachen Hilfsarbeiter zum mehrfachen Millionär.


Der Bau der Ashtabula Brücke


Amasa Stone, Charles Collins, Joseph Tomlinson
Von links nach rechts: Amasa Stone, Charles Collins, Joseph Tomlinson

Im Jahr 1863 hatte es Stone bereits zum Chefingenieur der "Lake Shore & Michigan Southern Railway" gebracht, als diese den Entschluss fasste, die Strecke zwischen Buffalo und Cleveland Diese Strecke verläuft auf einer Länge von etwa 300 km immer dicht am Südufer des Eriesees entlang. zu modernisieren. Dabei mussten auch viele Brücken saniert oder ausgetauscht werden. Eine davon war eine seit 1852 bestehende hölzerne Brücke über den Ashtabula River, dicht bei dem gleichnamigen Ort gelegen. Die alte Brücke war ungefähr 100 m lang und bestand aus mehreren Feldern auf gemauerten Pfeilern.

In dieser eigentlich unbedeutenden Brücke sah Amasa Stone offensichtlich das geeignete Objekt, um etwas ganz Neues auszuprobieren. Seine Idee war es, den bewährten Howeträger vollständig in Schweißeisen auszuführen und so eine deutlich größere Tragfähigkeit zu erzielen. Holzbrücken waren für Eisenbahnlinien ohnehin problematisch, weil sich im Sommer durch den Funkenflug aus den Kesseln der Lokomotiven häufig das Gestrüpp an den Bahndämmen entzündete. Wenn es nicht gelang die Brände rechtzeitig zu löschen, konnten natürlich auch hölzerne Brücken schnell zu einem Opfer der Flammen werden. Unter anderem aus diesem Grund hatten die deutschen Bahnen bereits im Jahr 1851 den gemeinsamen Entschluss gefasst, auf Hauptstrecken keine Holzbrücken mehr zu bauen.

Stone hatte offenbar im Sinn, in Ashtabula eine Art Versuchs- und Referenzobjekt zu errichten, das er bei positivem Verlauf auch auf andere Streckenabschnitte übertragen konnte. Nur so ist es zu erklären, dass Stone sich bei der Umsetzung seiner Idee von niemanden hereinreden ließ und Mahnungen seiner Mitarbeiter ignorierte. Das gesamte Projekt von der Herstellung bis zur Montage des Trägers war Chefsache, also Stones eigene. Völlig zurecht wurde die Verwendung des ersten und offenbar auch einzigen Howeträgers aus Schweißeisen später als gewagtes Experiment bezeichnet, das niemals hätte durchgeführt werden dürfen.


Ein Experiment im laufenden Betrieb


Der Ashtabula ist an dieser Stelle, knapp vier Kilometer vor seiner Einmündung in den Eriesee, bei normalem Wasserstand etwa 35 m breit. Mit den Böschungen war ungefähr eine Strecke von 100 m zu überbrücken. Stone wollte es vermeiden, Stützen im Flussbett zu errichten. Er reduzierte daher die Spannweite über dem Fluss auf ungefähr die Hälfte, indem er auf beiden Uferseiten hohe gemauerte Bögen mit Spannweiten von ca. 15 m errichten ließ. Nun blieb noch eine Lücke von knapp 47 m übrig, die er mit seinem neuartigen Eisenträger überspannen konnte.

Die Eisenteile wurden von den "Lake Shore Machine Shops" in Cleveland unter Aufsicht der Eisenbahngesellschaft hergestellt. Für diesen Streckenabschnitt war ein Ingenieur namens Charles Collins zuständig, in dessen Bereich somit auch der Bau der Brücke fiel. Ihm wurde jedoch von Amasa Stone schnell klargemacht, dass er sich aus dem Bau der Brücke in Ashtabula besser heraushalten sollte, was er künftig auch tat. Schwieriger gestaltete sich diese Anweisung bei dem eigentlichen Projektingenieur, einem Engländer namens Joseph Tomlinson.

Tomlinson war dafür zuständig die Entwürfe zu zeichnen und die Herstellung des Trägers zu überwachen. Offenbar war er ein erfahrener Brückenbauer, auch im Umgang mit dem Baustoff Eisen. Nach dem Unglück gab er bei seiner Befragung an, dass er sogar schon Hängebrücken errichtet hätte. Beim Brückenbau in Ashtabula erhielt Tomlinson seine Anweisungen direkt von Amasa Stone, mit denen er aber nicht immer einverstanden war. Insbesondere war er der Meinung, dass der Träger in einigen Teilen überdimensioniert sei, andere Teile aber, wie z.B. die Hauptstreben, zu schwach wären. Wegen dieser Meinungsverschiedenheit kam es mit Stone zu einem ernsthaften Zerwürfnis, dass Tomlinson schließlich dazu bewog, zu kündigen. Die Untersuchungskommission kam später zu dem Ergebnis, dass die Kritik Tomlinsons absolut berechtigt war.

Zu Tomlinsons Nachfolger wurde ein gelernter Zimmermann namens Rogers bestimmt, der sich mit der Verwendung von Holz gut auskannte, mit dem Baustoff Eisen aber kaum Erfahrung besaß. Er war von der Eisenbahngesellschaft eingestellt worden, um die zahlreichen Brücken instand zu halten, die zu diesem Zeitpunkt noch alle aus Holz bestanden. Bei seiner Zeugenaussage gab er später an, dass er, bevor er nach Ashtabula beordert wurde, gerade damit beschäftigt war Feuerholz für die Lokomotiven zu schlagen.

Schematische Darstellung eines Knotenpunkts
Darstellung eines Knotenpunktes am Obergurt.
Der eingefärbte Bereich symbolisiert einen der gußeisernen "Schuhe", in die man die horizontalen Stäbe
des Obergurts und die Diagonalstreben einsteckte. Der Bruch eines solchen Verbindungsstücks wurde
von der Untersuchungskommission für den Einsturz der Brücke verantwortlich gemacht.

Die einzelnen Teile des Trägers, die vorwiegend aus I-Profilen bestanden, wurden in der Eisenhütte in Cleveland hergestellt, zur Baustelle transportiert und erst dort zusammengebaut. Die einzelnen Stäbe aus denen sich der Träger zusammensetzte, waren maximal etwa 3,50 m lang, sodass auch Ober- und Untergurt aus mehreren dieser Stäbe zusammengesetzt werden mussten. Zur Verbindung der einzelnen Teile benutzte man weder das europäische Bolzen-System und auch nicht die schon bekannte Niettechnik. Stattdessen verwendete man Schrauben und Muttern. An den Knotenpunkten machte man es sich aber noch einfacher und steckte die Eisenstäbe in Formteilen aus Gusseisen, Der englische Begriff für ein solches Bauteil lautet 'angel-block' sogenannten "Schuhen", einfach stumpf zusammen.


Die Montage des Trägers

Ähnlich wie Rogers kamen viele der Arbeiter auf der Baustelle vom Holzbau, waren also Schreiner oder Zimmerleute und hatten keinerlei Erfahrung mit dem Eisenbau. Die späteren Untersuchungen zeigten, dass bei der Montage des Trägers teilweise so verfahren wurde, als hätte man es mit einem Holzträger zu tun. Außerdem wurden aus Unkenntnis einige Bauteile miteinander vertauscht, die zwar ähnliche Längen und Stärken hatten, aber eben doch nicht genau gleich waren.

Eine aufschlussreiche Anekdote von der Herstellung des Trägers ist den Protokollen des Joint Committees zu entnehmen. Danach kam Rogers eines Tages zu Albert Congdon, der die exakte Herstellung der Eisenteile in den Shops beaufsichtigte. Rogers sagte ihm, dass der Obergurt über 3 inches etwa 8 cm zu lang sei. Nachdem er alles genau überprüft hatte sagte Congdon ihm klipp und klar, dass er offensichtlich die Konstruktion nicht verstanden hätte. Er versuchte Rogers zu erklären, dass der Träger ein großes Eigengewicht habe und nach dem Einbau durchhängen würde, wenn der Obergurt länger wäre. Er versicherte Rogers, dass der Obergurt, nachdem der Träger an seinem Bestimmungsort eingebaut wäre, exakt waagerecht sein würde. Das glaubte Rogers aber nicht und ging mit seinem Anliegen zu Amasa Stone. Ohne auf die Einwände Congdons Rücksicht zu nehmen, gab Stone ihm den Auftrag, den Obergurt zu kürzen. Zähneknirschend führte Congdon die Anweisung aus und kürzte die einzelnen Profile des Obergurts. Als man die Stützen probeweise unter dem Träger entfernte, zeigte sich, dass er jetzt eindeutig zu kurz war. Erneut wurde Amasa Stone hinzugerufen. Dieser entschied kurzerhand, dass der Obergurt wieder auf das frühere Maß zu verlängern sei.

Die fälschlicherweise gekürzten Profile wurden aber nicht etwa neu hergestellt, sondern man legte kleine Gusseisenplatten zwischen die Stöße der einzelnen Stäbe in den "Schuhen". Diese Geschichte zeigt, dass offenbar nicht nur der Zimmermann Rogers die Konstruktion des Eisenträgers nicht richtig verstanden hatte, sondern auch Amasa Stone, der Mann, der den Howe-Träger aus Eisen konzipiert hatte. Insgesamt war also festzustellen, dass die Montage des Trägers teilweise sehr unprofessionell ausgeführt wurde.


Die Belastungsprobe

Eigentlich hätte die Brücke ein Jahr früher fertig sein sollen, aber die diversen Anpassungsmaßnahmen hatten viel Zeit gekostet. Vor der Inbetriebnahme war aber noch die vorgeschriebene Belastungsprobe durchzuführen. Die Brücke war so berechnet, dass sie pro Gleis drei der üblicherweise auf dieser Strecke verkehrenden Lokomotiven gleichzeitig tragen konnte. Natürlich waren drei Lokomotiven auf einem Gleis im praktischen Betrieb nicht zu erwarten. Dies entsprach aber durchaus der Belastung, die sich aus zwei Lokomotiven plus der Anzahl der Wagen ergab, die gerade noch auf der Brücke Platz fanden. Und das war genau die Situation zum Zeitpunkt des Einsturzes.

Da zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme aber erst ein Gleis verlegt worden war, wurde die Belastungsprobe nur mit drei Lokomotiven durchgeführt. Die Durchbiegung des Trägers war gering, sodass die Brücke die Probe bestand. Einige Monate später wurde auch das zweite Gleis verlegt und in Betrieb genommen. Auf eine erneute Probebelastung mit den vorgeschriebenen sechs Lokomotiven wurde aber offenbar verzichtet. Sei es aus Nachlässigkeit oder bewusstem Kalkül: letzten Endes wurde die Brücke niemals der eigentlich vorgeschriebenen Prüflast ausgesetzt.

Augenzeugenbericht von Marion Shepard:

Die Passagiere waren zu zweit, zu viert und in noch größeren Gruppen in dem Wagen verteilt. Einige aßen zu Mittag, andere unterhielten sich und eine ganze Reihe spielte Karten.

Das Glockenseil riss entzwei, ein Stück flog gegen eines der Lampengläser, zerschmetterte es und warf die brennende Kerze zu Boden. Dann fuhren die Wagen vor uns bumm, bumm, bumm, als ob die Räder über die Schwellen rumpeln würden. Bevor die Stöße zu spüren waren, dachten alle, die Lampe sei durch eine Explosion zerbrochen. Einige sprangen auf und andere ergriffen die Sitzflächen, um sich festzuhalten.

Plötzlich erfolgte ein schrecklicher Aufprall. Ich kann den Lärm nicht beschreiben. Da waren alle möglichen Geräusche. Über all diesem Lärm konnte ich ein scharfes, klirrendes Geräusch wahrnehmen, als ob sämtliche Scheiben in dem Wagen zersplittern würden. Jemand schrie: "Wir stürzen ab!". In diesem Moment erloschen sämtliche Lichter in dem Wagen. Es herrschte völlige Dunkelheit.

Ich stand in der Mitte des Ganges auf. Ich wusste, dass etwas schreckliches geschehen würde, und weil ich schon Erfahrung mit Eisenbahnunfällen hatte, stützte ich mich so gut wie möglich ab. Das Gefühl des Fallens war deutlich spürbar. Ich dachte an sehr viele verschiedene Dinge und machte mir klar, dass ich sterben würde.

Die ersten Sekunden schienen wir lautlos zu fallen. Ich spürte, wie der Boden des Wagens unter meinen Füßen versank. Ich konnte das Atmen der anderen Passagiere hören. Dann war der Wagen plötzlich mit umherfliegenden Splittern und Staub gefüllt, und wir schienen eine schwere Substanz einzuatmen. Für einen Moment war ich fast erstickt.

Wir fielen und fielen. Oh, es war entsetzlich. Es schien mir, als wären wir schon zwei Minuten lang gefallen. Die Liegeplätze rissen aus ihren Befestigungen und fielen über die Passagiere. Wir hörten ein furchtbares Krachen. Es war so dunkel als dieser Lärm verstummte und überall um uns herum war lautes Stöhnen zu hören. Es war so dunkel wie im Grab.

(...) Im Wrack herrschte die reinste Panik. Die Menschen waren außer sich. Einige waren so stark verängstigt und panisch, dass sie aus den Wagen gezerrt werden mussten, damit sie nicht verbrannten. Ich will nicht boshaft erscheinen, aber ich muss sagen, dass sich die meisten Frauen, die wenigen, die nicht direkt getötet wurden, mutiger verhielten als die Männer.

Bevor wir aus der Schlucht herauskamen, stand der ganze Zug in Flammen. Die Lokomotive, die Waggons und die Brücke hatten sich zu einem untrennbaren Knäuel verhakt. Aus den brennenden Trümmern kamen Schreie und die kläglichsten Hilferufe. Hoch über mir konnte ich das Läuten der Glocken im Dorf hören, das die Bürger alarmierte. (...)

Chicago Times vom 31. Dezember 1876

Nach der Probe mit drei Lokomotiven wurde die Brücke für den Verkehr freigegeben und versah die nächsten elf Jahre ohne besondere Auffälligkeiten ihren Dienst. Nachdem das zweite Gleis verlegt worden war, kam es auch mehr oder weniger regelmäßig zur Begegnung von Zügen auf der Brücke. Die Abmessungen des Trägers waren zu dieser Zeit insgesamt nicht außergewöhnlich, auch nicht für eine Eisenbahnbrücke. Die Länge des Trägers betrug 46,9 m, seine Breite ca. 5 m und die Höhe 6 m. Der Abstand der Gleise bis zum Wasserspiegel des Flusses betrug ca. 18 m. Die Höhe der Brücke wird in der Literatur sehr unterschiedlich angegeben. Aufgrund der vorhandenen Fotos kann man jedoch davon ausgehen, dass sie ungefähr dreimal so groß war, wie die Höhe des Trägers. Erst bei den Untersuchungen zum späteren Unglück stellte sich heraus, dass die Unterhaltung und die regelmäßigen Kontrollen der sensiblen Brückenteile während all der Jahre sträflich vernachlässigt worden waren.


Das Unglück nimmt seinen Lauf

Am Abend des 29. Dezember 1876 tobte im Norden Ohios ein heftiger Schneesturm über das Land. Schon seit 48 Stunden hatte es unaufhörlich geschneit Man maß später eine Schneehöhe von 50 cm neben der eingestürzten Brücke. und die Eisenbahnstrecke war durch Schneeverwehungen schwer passierbar. Bei solchen Wetterbedingungen wäre die Sicht selbst am Tag sehr schlecht gewesen. Entsprechend vorsichtig bewegte sich der Pacific Express von Buffalo nach Cleveland am Südufer des Eriesees entlang. Wegen des Schneesturms hatte man zwei Lokomotiven eingesetzt, die nun gemeinsam die elf Wagen zogen, die mit ca. 150 Fahrgästen (plus Zugpersonal) Die exakte Anzahl der Personen im Zug konnte niemals ermittelt werden. gut besetzt waren.

Viele von Ihnen waren auf dem Heimweg, nachdem sie die Weihnachtsfeiertage bei ihren Familien verbracht hatten. Andere waren unterwegs zu Freunden oder Verwandten, um bei ihnen Silvester zu feiern und das neue Jahr zu begrüßen. Aufgrund der Wetterbedingungen hatte der Zug den Bahnhof von Buffalo schon mit einer Stunde Verspätung verlassen und kämpfte sich nun mühsam durch das Schneegestöber. Viele Zeugen bestätigten später, dass sie niemals zuvor einen solchen Schneesturm erlebt hätten.

Kurz vor Ashtabula reduzierte der Führer der ersten Lokomotive nochmals die Geschwindigkeit. Er schätzte seine Geschwindigkeit später auf 20 bis 24 km/h. Einerseits wusste er, dass die Loks und die Wagen dem Sturm auf der Ashtabula-Brücke eine große Angriffsfläche bieten würden aber andererseits lag auch der Bahnhof von Ashtabula nur noch ein kurzes Stück dahinter. Es war 19:28 Uhr, als er mit seiner Maschine soeben das gemauerte Widerlager am westlichen Ufer des Flusses erreicht hatte, als er hinter sich einen ohrenbetäubenden Knall hörte, "wie von einem Kanonenschuss". Gleichzeitig hatte er plötzlich das eindringliche Gefühl bergauf zu fahren. Instinktiv gab er kräftig Dampf und erreichte um Haaresbreite das sichere Widerlager.

Als er sich umsah, konnte er gerade noch sehen, wie die zweite Lok, deren Kupplung gebrochen war, rückwärts in die Tiefe gerissen wurde. Dort wo vorher die Brücke war, konnte er jetzt nur noch ein schwarzes Loch erkennen. All das war natürlich innerhalb weniger Sekunden geschehen. Dann musste er mit ansehen, wie am gegenüberliegenden Brückenlager einer der beleuchteten Passagierwagen nach dem anderen auf die Unglücksstelle zurollte, über den Abgrund stürzte und auf dem zugefrorenen Fluss oder dem vorausfahrenden Wagen aufschlug.

Die Folgen des Absturzes waren fürchterlich. Durch die große Fallhöhe und die Wucht der nachfolgenden Wagen waren nur wenige Passagiere dazu in der Lage, anderen Hilfe zu leiste. Sicherlich waren viele der Zuginsassen direkt nach dem Aufprall tot. Sehr wahrscheinlich war aber die Mehrzahl - obwohl schwer verletzt - noch am Leben. Im nahegelegenen Ashtabula war die Katastrophe durch den Lärm nicht unbemerkt geblieben. Schon kurz nach dem Einsturz läutete jemand die Glocken der Kirche, um die Mitbürger zu Hilfe zu rufen. Und tatsächlich trafen die ersten innerhalb weniger Minuten am Unglücksort ein.


Erschlagen, ertrunken, erfroren, verbrannt!


Nur fünf Minuten nach dem Brückeneinsturz nahm das Unglück aber eine dramatische Wendung, denn nun begannen die Trümmerteile zu brennen. Alle Waggons bestanden fast vollständig aus Holz und waren wegen der klirrenden Kälte mittels Kohleöfen beheizt worden. Da die Wagen außerdem auch mit Öllampen beleuchtet wurden, gab es in jedem einzelnen Wagen offenes Feuer. Dadurch entstanden gleich mehrere Brandherde, die durch den Sturm angefacht schnell um sich griffen. So kam es, dass viele der Opfer bis zur Unkenntlichkeit verbrannten und später nicht identifiziert werden konnten.

Der Brückeneinsturz war aber eine Tragödie mit vielen Dimensionen: infolge der tagelangen Kälte war der Ashtabula River mit einer dicken Eisschicht bedeckt, die von den herabstürzenden Wagen durchschlagen wurde. Obwohl der Fluss an dieser Stelle nur etwas mehr als einen Meter tief war, ertranken auch einige Passagiere, weil sie unter Wasser gedrückt wurden und nicht rechtzeitig befreit werden konnten. Aus dem gleichen Grund gab es aber auch Opfer, die erfroren waren.

In den Zeitungen kursierten Tage nach dem Unglück zunächst sehr unterschiedliche Opferzahlen. Offiziell geht man heute davon aus, dass sich insgesamt 159 Menschen (Passagiere und Personal) in dem Zug befunden hatten. Die Anzahl der sofort getöteten oder innerhalb der nächsten Tage an ihren Verletzungen verstorbenen, wird heute mit 92 angegeben. Die 25 Toten, die nicht identifiziert werden konnten, wurden später in einem gemeinsamen Grab auf dem Chestnut Grove Friedhof in Ashtabula bestattet. Zwanzig Jahre nach dem Unglück errichtete man ein Monument für die unbekannten Opfer auf dem Friedhof. Die Zahl derjenigen, die leicht bis schwer verletzt überlebten, wird meist mit 60 angegeben. Das würde bedeuten, dass immerhin sieben Menschen den Absturz aus etwa 18 Metern Höhe beinahe unverletzt überstanden hätten.

Das gähnende Loch zwischen den Widerlagern
Besichtigung des Unglücksortes.
Rechts unten im Bild das Ende des abgerissenen Schienenstrangs.

Eine dieser Glücklichen war die 21-jährige Marion Shepard aus Ripon / Wisconsin. Schon zwei Tag nach dem Unglück wurde ihre lebhafte Schilderung der Tragödie in der Chicago Times veröffentlicht. Viele amerikanische Zeitungen druckten diesen Augenzeugenbericht in den darauffolgenden Wochen ab. Andere Überlebende berichteten über Mrs. Shepard, dass sich die resolute Frau direkt nach dem Absturz sehr ruhig und mit kühlem Kopf um einige der Verwundeteten gekümmert habe. Im Interview für die Zeitung berichtete sie auch, es sei ihr aufgefallen, dass sich die wenigen überlebenden Frauen generell tapferer verhalten hätten, als die Männer.

Unter den Überlebenden war auch G.D. Folsom, der Lokomotivführer der abgestürzten "Columbia", der mit einem gebrochenen Bein davon kam. Die größten Überlebenschancen hatten aber offenbar die Passagiere in den Schlafwagen am Ende des Zuges. Während es im ersten Passagierwagen hinter den beiden Lokomotiven nur einen Überlebenden gab, war im letzten Wagen nur ein Todesopfer zu beklagen. Das hing vermutlich damit zusammen, dass auf die vorderen Wagen alle nachfolgenden aufgeschlagen waren. Dadurch waren die zuletzt abgestürzten Wagen am wenigsten beschädigt.

Viele Bürger Ashtabulas waren an die Unglücksstelle geeilt und hatten selbstlos versucht, den eingeklemmten und verletzten Menschen zu helfen, so gut sie eben konnten. Manche stellten auch ihre Häuser zur Unterbringung der Verwundeten zur Verfügung und halfen ihnen, die erste Nacht zu überleben. Umso verstörender waren daher Berichte über Plünderungen und regelrechte Leichenfledderei, die in nicht unerheblichem Umfang stattgefunden hatte. Offenbar hatten einige gewissenlose Diebe die hilflose Situation der vielen Verletzten ausgenutzt, um Bargeld, Uhren, Schmuck und andere Wertsachen der Opfer zu stehlen.


Die Untersuchung

Das Unglück hatte auf die amerikanische Öffentlichkeit etwa die gleiche Wirkung, wie in Europa der fast auf den Tag genau drei Jahre später erfolgte Einsturz der Taybrücke sowie der Einsturz der Birsbrücke (1891). Noch nie zuvor hatte es in Amerika eine zivile technische Katastrophe mit so vielen Opfern gegeben. Gerade die Eisenbahn war für die Erschließung der unendlichen Weiten Amerikas enorm wichtig, und entsprechend enthusiastisch wurden deren Protagonisten im Allgemeinen gefeiert. Ein technisches Unglück auf dem Festland, mit einer so großen Zahl an Toten und Verletzten, versetzte dem Glauben auf eine bessere Zukunft durch die Industrialisierung und technische Errungenschaften wie der Eisenbahn, einen gehörigen Dämpfer.

Bereits wenige Tage nach dem Unglück wurde eine umfangreiche Untersuchung durch namhafte Fachleute angeordnet, die schnell zu einem verheerenden Ergebnis kam. Erhebliche Mängel, sowohl beim Bau der Brücke, als auch bei ihrer Unterhaltung, wurden schonungslos aufgedeckt. Das Komitee kam zu dem für die Eisenbahngesellschaft vernichtenden Urteil, dass nicht etwa der Einsturz der Brücke Anlass zur Verwunderung geben müsse, sondern vielmehr die Tatsache, dass eine so schlecht gebaute und gewartete Brücke überhaupt elf Jahre lang den Belastungen des Zugverkehrs standgehalten hätte.

Die Schuld an der Katastrophe wurde vor allem Amasa Stone zugewiesen, der in mehrerlei Hinsicht große Verantwortung für das Unglück trug. Zum einen war er der ranghöchste Vertreter der Eisenbahngesellschaft, mit den größten Einflussmöglichkeiten auf die Wartung und Instandhaltung ihrer Brücken. Außerdem war er es selbst gewesen, der den Howeträger aus Eisen sozusagen 'erfunden' hatte und alle Entscheidungen in Bezug auf dessen Konstruktion selbst getroffen hatte. Dabei hatte er alle Einwände und die Kritik seiner Ingenieure zurückgewiesen. Er war es auch, der zu vertreten hatte, dass die Belastungsprobe niemals mit der vollen Last von sechs Lokomotiven durchgeführt wurde.

Die Gerüchte, das Unglück habe sich nur durch übertriebene Sparsamkeit der Eisenbahngesellschaft ereignen können, weil sie an Material sparen wollte, konnten eindeutig widerlegt werden. Alle am Bau Beteiligten gaben zu Protokoll, dass Amasa Stone die Absicht hatte, eine "First-Class-Bridge", also eine absolut sichere Brücke zu bauen. Der Preis spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Auch die Qualität des von den Shops in Cleveland gelieferten Eisenmaterials war offensichtlich über jeden Zweifel erhaben. Allerdings wurde bei einem der gusseisernen Knotenpunkte in den die Stäbe eingesteckt waren, ein Riss festgestellt, der durch einen Lufteinschluss im Material entstanden war. Dieser hatte nach 11 Jahren einen 'Ermüdungsbruch' zur Folge, mit dem die Katastrophe ihren Anfang nahm.


Schwere Vorwürfe gegen die Eisenbahngesellschaft

Die Kommission stellte eine große Bandbreite der rechnerischen Sicherheiten einzelner Fachwerksteile fest. Besonders die auf Zug beanspruchten Stäbe waren deutlich überdimensioniert, während die meisten auf Druck beanspruchten Stäbe eher eine geringe Sicherheit hatten. Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass eigentlich genug Material in der Brücke verbaut worden war. Hätte man dieses überall an den richtigen Stellen angeordnet, hätte die Brücke niemals einstürzen können. Der Howeträger aus Eisen war insofern vor allem ein wirtschaftlicher Flop, denn man hätte ihn durchaus sicher herstellen können. Durch das ungünstige Verhältnis zwischen eingesetztem Material zu der damit erreichbaren Tragfähigkeit, war er anderen Trägerformen aber deutlich unterlegen.

Memorial auf dem Friedhof in Ashtabula
Der Obelisk auf dem Chestnut Grove Friedhof in Ashtabula,
der im Mai 1895 für die unbekannten Opfer der Tragödie errichtet wurde.

Ein weiteres Thema bei der Untersuchung des Unglücks war auch die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass sämtliche Wagen fast vollständig verbrannten. Es stand außer Frage, dass wesentlich mehr Menschen überlebt hätten, wenn man schneller hätte löschen können oder es gar nicht erst zu den Bränden gekommen wäre. Amasa Stone wurde befragt, warum in den Wagen keine selbstlöschenden Öfen eingesetzt wurden, worauf Stone ausweichend antwortete. Man kann nur vermuten, dass solche Öfen ein erheblicher Kostenfaktor für die Eisenbahngesellschaft gewesen wären. Es kam auch ans Tageslicht, dass es bei beiden Widerlagern der Brücke große Wasserfässer Die Fässer enthielten salzhaltiges Wasser, damit es im Winter nicht einfrieren konnte gab, die zum Löschen von Bränden vorgehalten wurden. Allerdings stammten diese noch aus der Zeit des hölzernen Brückenträgers und es gab jetzt keine passenden Schläuche mehr dafür. Nachdem der hölzerne Träger durch Eisen ersetzt worden war, sah die Eisenbahngesellschaft offenbar nicht mehr die Notwendigkeit, sich gegen Brände in Brückennähe zu wappnen.

Die Untersuchungskommission stellte weiterhin fest, dass selbst ein mäßig begabter Techniker bei einer sorgfältigen Überprüfung des Bauwerks die erheblichen Mängel an dem Träger hätte erkennen müssen. Schon beim Bau der Brücke, wie auch während ihrer gesamten Betriebszeit, war der schon erwähnte Charles Collins zuständiger Ingenieur der Eisenbahngesellschaft für diesen Streckenabschnitt. Zu seinen Aufgaben gehörte es dafür zu sorgen, dass die Schienen und alle zugehörigen Bauwerke in einem tadellosen, verkehrssicheren Zustand waren. Natürlich beaufsichtigte er diese Arbeiten nur, die von einem Stab seiner Mitarbeiter tatsächlich ausgeführt wurden. Offenbar machte Collins ihnen aber keine genauen Vorschriften, wie und vor allem wie oft die Brücken zu überprüfen waren.

Collings gab bei der Befragung durch den Untersuchungsausschuss noch einmal zu Protokoll, dass ihm von Amasa Stone von Anfang an klargemacht wurde, dass er sich aus dem Bau der Brücke heraushalten solle. Obwohl die Schuld der beiden Hauptbeteiligten von der Untersuchungskommission eindeutig festgestellt wurde, mussten sie sich aufgrund des amerikanischen Rechtssystems nie vor einem Zivilgericht für ihre Fehler verantworten und sich nicht einmal gegen Schadensersatzansprüche Hinterbliebener zur Wehr setzen. Dennoch ging das Unglück an beiden offenbar nicht spurlos vorüber.


Das Schicksal der Verantwortlichen

Charles Collins wurde am 18. Januar 1877, der Tag nach seiner Zeugenaussage, blutüberströmt in seinem Schlafzimmer in Cleveland aufgefunden. In seinem Kopf steckte eine Kugel und in beiden Händen hielt er Revolver. Natürlich wurde der Vorfall von der Polizei und der Presse als Selbstmord behandelt. Es passte sehr gut in die Moralvorstellungen der damaligen Zeit, dass ein Mann, der für viele Tote und Verletzte verantwortlich war, sich seine Schuld eingestand und auch das gerechte Urteil selbst vollstreckt hatte. Überraschenderweise wurden 2001 aber zwei Polizeiberichte aus dem Jahr 1878 aufgefunden, die beide - unabhängig voneinander - zu dem Ergebnis kamen, Charles Collins sei von fremder Hand getötet worden. Ein wichtiges Indiz für die Mordtheorie war eine zweite Kugel, die man in der Holzvertäfelung hinter Collins Bett sichergestellt hatte. Es ist unklar, warum diese Berichte seinerzeit von der Polizei unter Verschluss gehalten wurden.

Im Gegensatz zu Collins Tod, ist man sich bei Amasa Stone hingegen ganz sicher, dass er seinem Leben mit einem Schuss aus seinem Revolver selbst ein Ende setzte. Viele sahen darin den Beweis für sein "schlechtes Gewissen" wegen der vielen Todesopfer in Ashtabula. Ob das Zugunglück aber wirklich eine entscheidende Rolle dabei spielte, ist mehr als ungewiss. Der Selbstmord ereignete sich am 11. Mai 1883, also 6 ½ Jahre nach dem Unglück. In der Zwischenzeit war Stone weiterhin sehr erfolgreich als Eisenbahnmagnat tätig gewesen und hatte bei mehreren Eisenbahngesellschaften höchste Positionen inne. Allerdings musste er auch gravierende Niederschläge einstecken, sowohl in Bezug auf seine Gesundheit, als auch finanzieller Art. Er litt offensichtlich unter Depressionen, Schlaflosigkeit sowie einem Magengeschwür und soll kurz vor dem Bankrott gestanden haben.

Insofern könnte das tragische Ereignis in Ashtabula eine von vielen Ursachen für die schreckliche Konsequenz Stones gewesen sein. Die New York Times betitelte einen Artikel zu Ehren seines Lebenswerks mit: "A Millionaires Suicide". Darin wurde die Karriere des Self-Made-Mannes vom Farmersohn zum gefeierten Eisenbahngiganten und mehrfachen Millionär ausgiebig gewürdigt, das Unglück von Ashtabula aber mit keinem einzigen Wort erwähnt.


Folgen für die Eisenbahn


Der Fischbauchträger ab 1895
Der Fischbauchträger, der nach einem Feuer im Jahr 1895 den hölzernen Träger ersetzte.
Rechts daneben ein Pratt-Träger, anstelle des gemauerten Bogens.

Für die amerikanischen Eisenbahngesellschaften hatte das Unglück weitreichende Folgen, durchaus auch in positivem Sinne. Denn nun machten sich einige der Verantwortlichen doch erhebliche Sorgen um die Sicherheit ihrer Brücken. Viele Bauwerke (vor allem diejenigen aus Eisen) wurden nun gewissenhaft überprüft. Dabei wurden viele Mängel festgestellt. Manche der Brücken konnte man sanieren, andere wurden komplett ausgetauscht. Von staatlicher Seite wurden neue Vorschriften zu Bau, Unterhaltung und Überwachung der Eisenbahnbrücken erlassen. Alles Dinge, die man vorher gerne den privaten Eisenbahngesellschaften selbst überlassen hatte. Letztlich hatte die Katastrophe auch einen gewissen Einfluss auf die Ausbildung der Ingenieure, die mit entsprechend risikobehafteten Aufgaben betraut waren.

Da die Ashtabulabrücke auf einer wichtigen Strecke lag, setzte man alles daran, das Bauwerk so schnell wie möglich zu ersetzen. Schon am 18. Januar 1877, also nur 20 Tage nach dem Unglück, stand das Ersatzbauwerk zum Betrieb bereit. Wiederum griff man auf einen Howeträger zurück, der aber bis auf die vertikalen Stäbe diesemal komplett aus Holz bestand. Langfristig sollte die Zukunft aber doch dem Eisen als Baustoff für Eisenbahnbrücken gehören. Das Ersatzbauwerk war über 18 Jahre in Betrieb, bevor es im September 1895 bei einem Brand zerstört wurde. Danach entschied man sich für einen eisernen Fischbauchträger und auch einen der gemauerten Bögen ersetzte man bei dieser Gelegenheit durch einen Pratt-Träger aus Eisen.

Trotz aller damit verbundenen Tragik, brachte der Einsturz der Eisenbahnbrücke von Ashtabula mit den sich daran anschließenden gründlichen Untersuchungen, auch einen Erkenntnisgewinn für die Ingenieure. Letzten Endes war auch diese Tragödie ein kleiner Baustein in der Summe von Erfahrungen, aus der man schließlich die wissenschaftlichen Grundlagen für den Bau sicherer Brücken zog.

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